Stresemanns Ganz normal

Ein Satz mit 81 Wörtern

„Dem Gesundheitsamt wurde am 06.08.2021 durch ein Untersuchungslabor mitgeteilt, dass bei Ihnen der Erreger Keuchhusten nachgewiesen wurde. (…) Sie werden daher gemäß Paragraf 25 Absatz 2 in Verbindung mit Paragraf 16 Absatz 2 Satz 3 Infektionsschutzgesetz verpflichtet, die erforderlichen Auskünfte zu erteilen. Bitte beachten Sie: Für den Fall, dass Sie der Aufforderung nicht Folge leisten, können Zwangsmittel gemäß Paragraf 11 HmbVwVG verhängt oder ein Ordnungswidrigkeitenverfahren gemäß Paragraf 73 lfSG eingeleitet werden.“

Dieses Schreiben bekam eine Frau von ihrem Gesundheitsamt. Sie hatte wissen wollen, ob sie gegen Keuchhusten immun ist. Eine Frage, die sich eigentlich mit Ja oder Nein beantworten ließe.

An diesem Beispiel lässt sich viel lernen. Wenn man denn wollte. Doch da hapert es in Deutschland. Behörden sprechen mit uns Bürger:innen meistens so, dass wir sie nur mit Mühe verstehen: unbekannte Kunstwörter, lange Schachtelsätze, Funktionsverbgefüge statt Verben – kurz: alles zu lang, alles zu kompliziert. Das führt ständig zu leicht vermeidbaren Missverständnissen.

In Bochum gründete sich 2010 aus einem wissenschaftlichen Projekt eine Firma, die heute im Auftrag von Behörden versucht, Formulare und Texte verständlicher zu machen. Eine Mitarbeiterin der Firma findet:

„Es ist eigentlich ein Skandal! Man kann es auch ruhig mit solchen drastischen Worten sagen. Wieso finanziere ich was, was ich aber nicht verstehen kann? Wieso muss ich da immer anrufen? Und dann wird mir teilweise gesagt: ‚Ja, jetzt lesen Sie den Brief erst mal und dann können Sie mich noch mal anrufen.‘ Ich habe den gelesen, fünfmal. Ich habe es trotzdem nicht verstanden. Das ist ein Skandal. Deutschland ist in der Hinsicht ein Entwicklungsland.“

Einiges an diesem Amtsdeutsch war nämlich schon bei seiner “Erfindung” Anfang des 20. Jahrhunderts verstaubt. Das sagt eine ganze Menge über das Menschenbild, das der Staat vor 120 Jahren pflegte. Amtssprache suggeriert, wir seien in den Augen des Staates lediglich Befehlsempfänger:innen. Deshalb ist dieses Thema nicht ein Nice-to-Have, sondern wichtig, damit man nicht bei jedem Kontakt mit einer Behörde an der demokratischen Grundordnung zweifeln muss.

Es gibt Forschung dazu, was Texte verständlicher macht. Und die hat inzwischen auch einige nützliche Hilfsmittel entwickelt.

An der Uni Hohenheim fühlen sie Texten auf den Zahn. „TextLab“ heißt die Software, die das Institut für Kommunikationswissenschaft mitentwickelt hat. Und die wird mit allem Möglichen gefüttert:

„Wir gucken uns alles an, was man so messen kann. Das fängt an mit der Bäckerblume und der Apotheken-Umschau und geht über die Reden von Vorstandsvorsitzenden von DAX30-Unternehmen, Reden von Politikerinnen und Politikern, Dissertationen, Medienberichterstattung, die Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Banken und Versicherungen, Gebrauchsanleitung für die Elektroindustrie, aber auch Packungsbeilagen aus der pharmazeutischen Industrie, Broschüren, Flyer, wirklich alles, was in Textform vorliegt.“

Diese Software spuckt einen Wert aus, an dem sich klar ablesen lässt, wie verständlich ein Text ist. Von ihr bekommt eine amtliche Pressemitteilung der Bundesregierung zum Thema Corona schlappe 0,56 Punkte von 20 möglichen.

„0,56. Da muss man jetzt kein Verständlichkeitsforscher sein, um zu erkennen: Da gibt es Verbesserungspotenzial. Da haben wir hier drüben die Anzeige der einzelnen Parameter und Rot sehen wir schon: Sätze mit mehr als 20 Wörtern. Das ist offenbar ein Problem. Der zweite Satz: 40 Wörter. Der dritte Satz: 27. 23, 46, 31 Wörter. 81. Das ist einer meiner Lieblinge. Ein Satz mit 81 Wörtern. Da wissen Sie am Ende nicht mehr, wie er angefangen hat.“

Seufz.

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