Stresemanns Ganz normal

Fast so wie “Halloween”

Fast so wie “Halloween”

Eine Geschichte in 5 Kapiteln

Kapitel 1:
Das grüne Band

Als ich um Halloween in der zweiten Klasse war, versammelte mein Lehrer die Klasse in einem Halbkreis auf dem Teppich vorne im Raum und las uns aus einem illustrierten Buch Gruselgeschichten vor.

Die erste Geschichte handelte von Jenny, die immer ein grünes Band um den Hals trug. Sie weigerte sich, jemandem zu sagen, warum sie das Band trug. Sie weigerte sich auch, es abzunehmen, trotz der vielen Versuche ihres Mannes, sie davon zu überzeugen. Am Ende der Geschichte wurde Jenny krank und starb. Ihr Mann löste schließlich das Band von ihrem Hals, zog an einem Ende, als – ihr Kopf abfiel.

Ich war so erschrocken über die Geschichte, dass ich nicht einmal die Illustration von diesem Schauspiel sehen wollte. Ich rollte mich nur auf dem Teppich zusammen und bedeckte meine Augen und Ohren. Die Kinder lachten, selbst der Lehrer war amüsiert.

In diesem Alter konnte ich es nicht artikulieren, aber ich verstand die tiefere Bedeutung der Geschichte. Das Entsetzen lag nicht in dem Bild von Jennys Kopf, der von ihrem Nacken fiel, sondern in Jennys lebenslanger körperlicher Zerbrechlichkeit und in ihrem Bedürfnis, diese Zerbrechlichkeit geheim zu halten. Niemand sollte sie je ausnutzen können. Selbst der Person, die sie auf der Welt am meisten liebte, konnte sie sich nicht anvertrauen.

Kapitel 2:
Als ich unglaubwürdig wurde

“Als ich sieben Jahre alt war, haben mir die Leute viele Dinge nicht geglaubt.”

Als ich sieben Jahre alt war, glaubten mir die Leute in vielen Dingen nicht. Sie glaubten mir nicht, als ich ihnen sagte, dass ich perfekt lesen könne, obwohl meine Rechtschreibung grausam und meine Handschrift eine nicht entzifferbare Reihe von Hieroglyphen war. Sie glaubten mir nicht, als ich ihnen sagte, dass das Geräusch eines Feueralarms, eines zerplatzenden Ballons oder von Schuhen, die auf Linoleum quietschten, mir so starke Beschwerden verursachte, dass ich Übelkeit und Panik verspürte.

Sie glaubten mir nicht, als ich ihnen sagte, dass Geräusche Farben haben. Sie glaubten mir nicht, als ich ihnen sagte, dass ich so oft hingefallen bin, weil meine Knöchel ohne vorherige Anzeichen kraftlos wurden. Sie glaubten mir nicht, als ich ihnen sagte, dass ich nicht als Frau aufwachsen, einen Mann heiraten und Kinder haben wollte.

Ich hatte den Ruf, Geschichten zu erfinden und bizarre Ausreden, um mich vor dem dem Unterricht oder der Hausarbeit zu drücken.

Eine Weile, nachdem mein Lehrer die Geschichte von Jenny und dem grünen Band vorgelesen hatte, musste ich alle paar Minuten Wasser lassen, ganz gleich, wie wenig ich getrunken hatte. Pipi machen war schmerzhaft und ich konnte es nicht halten. Ich versuchte dies, meinem Lehrer zu erklären, aber statt mich zur Krankenschwester zu schicken oder meine Eltern anzurufen, erhielt ich einen Vortrag über Jammern und Fehlverhalten. Ich hielt meinen Zustand für ein paar weitere Wochen so gut es ging aus bis ich anfing, Blut zu pinkeln.

Danach folgte eine Parade von Arztterminen und Krankenhausbesuchen. Ich wurde geröntgt. Fremde untersuchten meinen Körper auf quälende, intime Weise. Die Ärzte befürchteten, ich könnte eine schwere Krankheit haben, vielleicht sogar Krebs, aber sie erkannten bald, dass es sich nur um eine Blasenentzündung handelte. Weil sie schon so lange fortbestand, hatte sich die Infektion auf meine Nieren ausgebreitet und ich brauchte eine intensive Behandlung mit starken Antibiotika.

Ich hatte Angst, aber ich fühlte auch einen überlegenen Nervenkitzel des Sieges, als sich herausstellte, dass wirklich etwas mit meinem Körper nicht stimmte. Ich hatte recht gehabt Mein Schmerz war nicht bedeutungslos oder imaginär.

Eine normale Geschichte würde wir hier enden. Ich hätte eine Lektion über Selbstbehauptung und das Vertrauen in meine Gefühle gelernt. Die Menschen um mich herum hätten gelernt, dass man Mitmenschen, sogar Kinder, als Autoritäten für ihre eigenen Körperwahrnehmungen akzeptiert. Aber dies ist eine wahre Geschichte, und das bedeutet, es ist eine Art Horrorgeschichte. Eine gruselige Geschichte für eine dunkle Nacht.

Kapitel 3:
Eine weitere Diagnose

“Als ich dreizehn war, sagte ich meiner Mutter, dass ich dachte, ich sei bisexuell.”

Kurz nach meiner Blasen- / Niereninfektion wurde bei mir eine Störung aus dem eine Autismus-Spektrum diagnostiziert. Das erklärte meine sensorischen Empfindlichkeiten, meine emotionalen Ausbrüche und viele meiner Schwierigkeiten in der Schule.

Die Erwachsenen in meinem Leben waren danach eher bereit, mir etwas zu glauben, aber nicht unbedingt, meiner unterschiedlichen Wahrnehmung Respekt zu zollen. Vielleicht war ich nicht absichtlich melodramatisch, aber das bedeutete nicht, dass meine Gefühle absurd und unberechtigt waren. Mir wurde immer noch nicht zugetraut, mich selbst zu kennen.

Als ich dreizehn war, sagte ich meiner Mutter, dass ich dachte, ich sei bisexuell. Ihre Antwort war schnell und zuversichtlich. “Nein, bist du nicht”, sagte sie.

Als ich etwas fühlte, das ich nicht fühlen sollte, tadelte ich mich.

Sie fuhr fort, sanft zu erklären, dass es nichts Falsches sei, homosexuell zu sein. Sie hätte liebe Freunde, die schwul wären! Aber, sagte sie mir, die überwiegende Mehrheit der Menschen sei heterosexuell. Und wenn jemand in meinem Alter dachte, er sei nicht einmal wirklich homo- sondern bisexuell, dann wäre er mit ziemlicher Sicherheit nur eine verwirrte heterosexuelle Person.

Ich geriet ins Schleudern. Im Teenageralter hatte ich dann die Idee verinnerlicht, dass die Menschen um mich herum mehr über meinen Körper, über meine Gefühle, über das, was ich wollte und brauchte und was nicht, wussten als ich es selbst tue oder jemals tun würde. Als ich etwas fühlte, das ich ihrer Meinung nach nicht fühlen sollte, tadelte ich mich.

Ich ignorierte meine schlaffen Knöchel und die Art und Weise, wie ein meiner Schultern gelegentlich teilweise aus ihrem Gelenk sprang. Ich ignorierte meine Gefühle für Mädchen und versuchte mein zunehmendes Unbehagen mit meinem Körper zu ignorieren, als er Brüste und Hüften entwickelte. Ich hungerte, um sie sich nicht weiter entwickeln zu lassen und Menstruationsblutungen zu vermeiden.

Dann entdeckte ich Horror-Comics.

Kapitel 4:
Der süchtig machende Reiz des Grauens

“Aber derjenige, der mich am meisten erschreckte… war ein japanischer Manga namens ‘Uzumaki’.”

Die älteren Goth-Kinder, die ich kannte, gaben mir die Horror-Comics nach dem außerschulischen Kunstunterricht, den wir zusammen hatten. Ein Mädchen mit stacheligen blauen Haaren stellte mich ‘Johnny, dem Amokläufer’ vor. Ein Junge, der auch drinnen immer eine Sonnenbrille und einen großen Zylinder trug, stellte mich ‘Dem Sandmann’ vor. Aber derjenige, der mich am meisten erschreckte und störte, derjenige, bei dem ich immer wieder schauderte, der schnell mein Favorit werden würde, war ein japanischer Manga namens ‘Uzumaki’.

‘Uzumaki’ gehört zu den bekanntesten Werken von Junji Ito, einem ehemaligen Zahntechniker, der sich seit den späten 1980er Jahren mit surrealen Horror-Comics einen Namen gemacht hat. Sein medizinischer Hintergrund zeigt sich in der anatomischen Präzision, mit der er verzerrte Menschen, Tiere, Pflanzen und Gebäude wiedergibt.

In ‘Uzumaki’ (‘Spirale’ auf Japanisch) erkennt ein junges Paar, dass in ihrer Heimatstadt seltsame und schreckliche Dinge passieren, die alle durch das Vorhandensein von Spiralformen verbunden sind. Für einen Großteil der Geschichte sind die beiden Protagonisten die einzigen Bewohner, die das Ausmaß des Geschehens zu verstehen scheinen. Sie versuchen andere zu warnen, werden aber als paranoid abgetan, selbst als sich ihre Freunde und Nachbarn in Riesenschnecken verwandeln oder menschliches Blut durch ihre neuen hohlen, spiralförmigen Zungen trinken.

‘Uzumaki’ hat mich genauso stark beeinflusst wie die Geschichte des grünen Bandes in meiner Kindheit, aber es war dunkler und besser für die Komplexität des Jugendalters geeignet. In Uzumaki ging es nicht um den Kampf einer Person, ihren Körper zu schützen, sondern um zwei Menschen, die versuchten, sich selbst und einander zu schützen, obwohl sie nicht immer wussten, was sie wollten oder brauchten oder welche Regeln galten oder was ihre Körper als Nächstes tun würden.

Das Siechtum war in ihnen und überall um sie herumund wurde nicht mit unblutiger Einfachheit impliziert oder wiedergegeben. Jede Ausgabe des Mangas hatte mindestens eine ganzseitige Illustration, die ein Schuspiel von übernatürlich verstümmeltem menschlichen Fleisch zeigte.

Wo ich früher meine Augen und Ohren angesichts des Geheimnisses der armen Jenny bedeckt hatte, konnte ich nun nicht genug davon bekommen die weitaus schlimmeren Schicksale der Charaktere in “Uzumaki” zu betrachten.

Kapitel 5:
Ich lerne, mir selbst zu vertrauen

“Körperhorror sagt, dass selbst unsere schlimmsten, ekelhaftesten Erfahrungen nicht unaussprechlich sind.”

Mir fehlten die Worte Worte, um mich als Transgender zu definieren, bis zum Ende meiner Teenagerzeit; erst am Ende meiner Zwanziger hatte ich mein Coming-Out. Wiederum ein paar Jahre später wurde bei mir das Ehlers-Danlos-Syndrom diagnostiziert, eine genetische Störung, die für meine schlaffen Knöchel und verlagerten Schultern verantwortlich ist.

Ich kämpfe bis heute mehr oder weniger mit meinen Essstörungen.

Meine Auseinandersetzung mit grotesken Medien war kein Weg zum unmittelbaren Glück. Nichts gab mir Vertrauen in meine eigenen Wahrnehmungen oder das Nötige, um einen geeigneten Arzt aufzusuchen. Aber ich glaube, dass diese Dinge mir geholfen haben, meine Ausdauer zu kultivieren. All das half mir, den Kern des Selbstvertrauens in mir am Leben zu erhalten, auch wenn ich verwirrt war und Schmerzen hatte und die Welt um mich herum nicht sicherer wurde.

Als Erwachsene/r habe ich mich mit anderen angefreundet, die behindert, trans oder queer sind. Klar, nicht alle von uns mögen Horrorfiktion, aber ich habe bemerkt, dass die, die es tun, fast immer mehr zum Körperhorror neigen als zu anderen Subgenres.

Wir können nicht genug von Geschichten über die zerbrechliche Unsicherheit unseres Fleisches, unserer Haut und unserer Knochen bekommen. Wir sehen uns oft als beides: als Monster, die von einer Welt bedroht sind, die uns nicht versteht, die die Bänder um unseren Hals ohne einen zweiten Gedanken löst, und als Opfer unserer unbeherrschbaren Körper, die rebellieren oder auf grelle Weise zusammenbrechen, sichtbar in Wunden und Narben.

Körperhorror sagt, dass selbst unsere schlimmsten, ekelhaftesten Erfahrungen nicht unaussprechlich sind. Es zeigt uns, wie wir unsere Geschichten erzählen und wie wir sie laut und unerbittlich weiter erzählen können, während wir auf verrottenden, aber stabilen Beinen in die Zukunft gehen. Unsere Körper werden von Bändern und Hoffnung zusammengehalten.

Über Autorin und Bilder:

Über die Autorin:

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Briar Ripley Page lebt derzeit im Nordosten der USA, wo sie Belletristik, Sachbücher und Gedichte schreibt. Ihr Artikel wurde uns freundlicherweise vom Wellcome-Museum London zur Verfügung gestellt.


Zur Homepage der Autorin

Für die Übersetzung des Artikels danke ich meiner lieben Frau für ihre große Mühe.

Über die Bilder:

Ich bedanke mich für die wunderbaren Bilder, die uns unsere Freunde aus Kiel zur Verfügung gestellt haben. Zu Halloween gestalten sie Haus und Garten im Grusel-Look.

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