Stresemanns Ganz normal

Frau am Kreuz (2. Teil)

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Von der mittelalterlichen Heiligen zu Pop-Ikone

Conchita Wurst wusste nichts von ihrer „Vorgängerin“, die ihr in manchen Darstellungen verblüffend ähnlich sieht. Dennoch: Auch wenn die Geschichte aus einer Zeit kommt, in der von Toleranz gegenüber Homosexuellen und Transgender-Personen keine Rede sein konnte, gibt es einige Parallelen.

Nun erlebt sie in bildender Kunst, Pop-Kultur und Politik eine Renaissance. Gestern wie heute stellt die Figur eine Allegorie der Befreiung und Toleranz dar. So eignet sie sich als Projektionsfläche für soziale und politische Anliegen. Das Frauenmuseum im österreichischen Hittisau s.u.) widmet der “Frau am Kreuz” bis zum 20. Oktober 2019 eine Ausstellung.

Der androgyne Christus

Das Motiv der bärtigen Frau bietet in einen breiteren Zusammenhang durchaus Parallelen zu Conchita Wursts Botschaft von Gleichberechtigung und Toleranz. Im Mittelalter sind bei Jesus-Darstellungen die Geschlechtergrenzen langsam verschwommen. Bilder oder Skulpturen, die Jesus mit weiblichen Attributen – seien es Brustansätze, lockiges Haar, Gesichtszüge, Figur oder Kleidung – zeigten, sind abseits der heiligen Kümmernis keine Seltenheit.

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Die heilige Julia des Künstlers Gabriel von Max ist an ein Wegkreuz gebunden. Es dämmert und ihr Gesichtsausdruck ist abwesend. Zu ihren Füßen kniet ein gelockter Jüngling. Im Gegensatz zu den mittelalterlichen Darstellungen oder den Motiven der Volkskunst finden wir hier eine Mischung aus religiöser und erotischer Schwärmerei. Der Jüngling ist nicht der Bittsteller, der von einer Heiligen ein Wunder oder eine Erlösung erhofft. Vielmehr ist er ein von seinen GefühIen Überwältigter.

Zurückzuführen sind weibliche Merkmale von Personen am Kreuz keineswegs auf Unachtsamkeiten oder fehlende Kompetenz der Künstler, sondern tatsächlich auf eine konkrete mythische Grundlage. Schon in vorchristlichen Religionen – etwa in der griechischen Mythologie – gab es Gottheiten, die androgyn dargestellt wurden, um ihre göttliche Vollkommenheit darzustellen.

Auch im Christentum ist das in Bezug auf Jesus geschehen. Er war männlich in dem Sinn, dass er der Sohn Gottes und Marias war. Gleichzeitig aber wurde sein Körper aber auch für weiblich gehalten, indem sein Fleisch aus dem Schoß seiner Mutter geformt wurde.

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Zu seinem Holzschnitt (entstanden vermutlich Anfang des 16. Jahrhunderts) schreibt der Künstler Hans Burgkmair im Begleittext der Tafel, dass sowohl St. Kümmernis als auch Christus in Form des Volto Santo von Lucca dargestellt werden sollen. Das ergibt zwei Erklärungsmöglichkeiten: Einerseits könnte der Holzschnitt belegen, wie normal diese Verbindung damals war. Andererseits könne es sich auch um den Versuch des Künstlers handeln, die Grenzen der politischen Möglichkeiten auszuloten.

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1928 erscheint zum Bühnenstück „Der brave Soldat Schwejk“ an der Piscator Bühne Berlin eine Mappe mit Werken von George Grosz. Das größte Aufsehen erregt dabei eine Zeichnung, die Christus am Kreuz zeigt. Er trägt eine Gasmaske und Soldatenstiefel.

Die Zeichnung ist untertitelt mit „Maul halten und weiter dienen“. Grosz wird nach einer Strafanzeige zu einer Geldstrafe von je 2000 Mark wegen Gotteslästerung verurteilt.

Später wird Grosz freigesprochen, weil die Zeichnung die Person Jesu’ nicht angreife oder gar beschimpfe. Grosz geht es vielmehr darum, die Remilitarisierung Deutschlands, die lange vor 1933 begonnen hatte, zu kritisieren.

Ein Kreuz voller Blumen und Tiere

Die Befreiungstheologie, eine in Lateinamerika entstandene Richtung der christlichen Theologie, versteht sich als „Stimme der Armen“. Sie richtet sich gegen Ausbeutung und Unterdrückung, stellt sich gegen diktatorische Regimes und arbeitet für eine basisdemokratische Gesellschaftsordnung. Die Befreiungstheologie kritisiert patriarchale Denkmuster in der Religion, die sie als weiße, westliche und männlich geprägte Mittelstandstheologie sieht.

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Zahlreiche Menschen kostete diese Haltung das Leben. Eine davon ist Maria Cristina Gömez (1942- 1989). Sie setzte sich für Frauenrechte ein und eröffnete eine Beratungsstelle für Frauen, die Opfer von Gewalt geworden waren. Sie wurde selbst von Unbekannten entführt, gefoltert und ermordet.

Als Erinnerung an die mutige Christin gestalteten salvadorianische Frauen ein Kreuz. Es ist ein Kreuz voller Farben, Blumen, Tiere, Felder und Häuser. In der Mltte ist eine Iächelnde Frau abgebildet.

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Das Kreuz auf dem Foto von Alberto Giacomazzi wird aus mehreren 20—Euro-Scheinen gebildet. Am Kopfende schwebt ein Globus, der die westliche Hemisphäre mit dem Atlantik im Mittelpunkt zeigt,

Der Bart schenkt Freiheit

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Linda Medley ist eine amerikanische Comicbuchautorin und -illustratorin. Ihr mehrbändiger Comicroman „Castle Waiting“ erzählt die Geschichte eines isolierten Schlosses und seiner exzentrischen Bewohnerinnen.

Den dritten Band ihres Langzeitprojekts widmet sie der heiligen Wilgefortis. Im Comicroman erzählt Linda Medley, wie der Bart der Heiligen eigentlich Freiheit schenkt.

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Im Sommer 2006 inszenierte sich Madonna auf ihrer Tour „Confessions on a Dance FIoor“ als Gekreuzigte. Einmal mehr fühlten sich viele Menschen dadurch provoziert. Madonna ist in einer römisch-katholischen Arbeiterfamilie aufgewachsen. Die katholischen Rituale und Moralvorstellungen sind ihr vertraut. Viele ihrer Lieder beziehen sich darauf, z.B. „Like a Virgin“ oder „Like a Prayer“.

„Wenn man Madonna Hybris und Blasphemie verwirft, dann liegt das u.a. auch daran, dass in ihrer Visualisierung der Kreuzigung eben gerade nicht eine leidende Frauenfigur in den Blick kommt. Madonna stellt sich in ihrer Kreuzigungsszene selbst dar. Es ist Madonna, die weltweit erfolgreiche und berühmte Frau, die den Platz Christi einnehmen will. Ihre Show ist nicht deswegen kontrovers, weil hier ein weiblicher Körper am Kreuz gezeigt wird, sondern wegen der Art und Weise, wie Madonna die Kreuzigung visualisiert: ästhetisch perfekt.

Apostel in der Toleranz

Im Mai 2014 gewann Conchita Wurst den Eurovision Song Contest. Die Tatsache, dass sie als Frau mit Bart auftrat, führte zu homophob motivierten Protesten und Boykott seitens Russlands und der Türkei.

Thomas Neuwirth alias Conchita Wurst, sagt, es sei „wurst“, mit welcher sexuellen Identität und mit welchem Outfit man sich präsentiere. Er/sie nutzt bewusst oder unbewusst einen religiösen Mythos, mit dem auch eine politische Botschaft ausgedrückt wurde: Conchita Wurst wird so zur Apostelin für das Menschenrecht der Selbstbestimmung und der Toleranz.

Selbst wenn Thomas Neuwirth die Figur der heiligen Kümmernis nicht kannte, verbanden sich für viele Menschen die beiden Figuren auf einer rein assoziativen Ebene.

St. Kümmernis verwurstet

„[…] Nur „schräg zu sein“ reicht nicht. Die Kunstfigur „Conchita Wurst“ bedient sich vielmehr der Maske einer europäischen Heiligen und präsentiert damit das Motiv der bärtigen Frau nicht in verweltlichter Form, wie dies früher in den Jahrmarktbuden gern gezeigt wurde, sondern auf einer spirituellen Grundlage. Für das katholische Erbe spricht auch der spanische Mädchenname Conchita, der sich von concepciön ableitet („Unbefleckte Empfängnis“); von Blasphemie kann also nicht die Rede sein. Zum Erfolgsrezept dieser Art Kulturschaffen hat lockeres, kaum reflektiertes Übernehmen mythischer und religiöser Versatzstücke schon immer gehört. Madonna machte es vor. […]”

aus: Heilige Bartträgerin, Presse, Schaufenster, Kultur.ReIigion‚ Juli-August 2014, S. 240

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Die Pionierin der Performancekunst, Marina Abramovic, wurde durch ihre Aktionen weltberühmt. Ihr Körper wird zum Objekt ihrer Kunst. Dabei entwickelt sie spezielle Rituale und dehnt ihre Schmerzgrenze aufs äußerste aus. Durch die Extreme ihre Aktionen will sie physische und mentale Mauern durchbrechen. Durch das Extreme sucht sie den Moment der Wahrheit.

Und wer mit der Performance einer Marina Abromovic oder Madonna nichts anfangen kann: Der Legende von Wilgefortis nahmen sich übrigens auch die Gebrüder Grimm an.
Im zweiten Teil der Erstauflage der Hausmärchen aus dem Jahr 1815 findet sich das Märchen “Die heilige Kümmernis”. Es endet mit dem Satz:

Also wurde der Geiger der Eisen und Bande ledig, zog vergnügt seiner Straßen, die heilige Jungfrau aber hieß Kümmernis.

Über das Frauenmuseum Hittisau

Weltweit gibt es über 50 Frauenmuseen – in Städten wie Bonn, Meran, Ärhus, Dakar, Xi’an‚ Ho-Chi-Minh-Stadt oder San Francisco. Das Frauenmuseum Hittisau ist das einzige im ländlichen Raum. Starke Frauen spielen in lokalen Mythen des Bregenzerwaldes eine große Rolle. So sollen Frauen in der Schlacht an der Roten Egg am Ende des Dreißigjährigen Krieges schwedische Truppen in die Flucht wurde geschlagen haben. Im Jahre 2000 wurde in Hittisau ein Gebäude für Feuerwehr und Kultur geplant. Daraus entwickelte die aus Hittisau stammende Elisabeth Stöckler ein Konzept für ein Museum, in dem Frauengeschichte und Frauenkultur erforscht, ausgestellt und vermittelt werden.

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